Ganz Spanien leidet unter der Wirtschaftskrise. Ganz Spanien? Im andalusischen Dörfchen Marinaleda regiert Juan Manuel Sánchez Gordillo, seine Bürger haben Arbeit, Häuser, grüne Gärten. Wie schafft der Kommunist das nur?
Mit seinem Vollbart und dem Palästinensertuch um die Schultern wirkt er wie eine Mischung aus Karl Marx und Fidel Castro.
Die Ähnlichkeit mit den beiden Stars des Sozialismus ist gewollt, sie
beschränkt sich nicht nur aufs Äußerliche: Juan Manuel Sánchez Gordillo,
Bürgermeister der kleinen andalusischen Gemeinde Marinaleda, regiert
sein Dorf nach kommunistischen Prinzipien. Arbeitslosigkeit und Hypotheken sind hier Fremdwörter, mitten im krisengeschüttelten Spanien.
Die Hauswände in Marinaleda sind gespickt mit politischen Parolen.
"Unterwegs zur Utopie" kann man am häufigsten lesen. "Eine Utopie auf
dem Weg zum Frieden" steht sogar im Wappen der Gemeinde.
Die Utopie Marinaledas begann Anfang der achtziger Jahre. Tagelöhner
besetzten eine Finca, die einem in Madrid lebenden Aristokraten gehörte.
"Das Land denen, die es bearbeiten", skandierten sie und ließen sich in
ihrem Vorhaben auch durch wiederholte Räumungen nicht entmutigen. Immer
wieder besetzten sie die 1250 Hektar große landwirtschaftliche Fläche,
bedrängten Politiker, traten in den Hungerstreik. Allen voran Juan
Manuel Sánchez Gordillo. Schließlich enteignete die andalusische
Regierung den Aristokraten und übergab das Land an die Gemeinde. Seither
verwalten die Einwohner Marinaledas es gemeinsam in Form einer
Kooperative.
"Eine andere Welt ist machbar!"
"Alle wichtigen Entscheidungen treffen wir in Vollversammlungen",
sagt der Bürgermeister. "Die Menschen legen selbst fest, wie viel
Steuern sie zahlen wollen oder wofür unsere Überschüsse ausgegeben
werden." Die Landarbeiter von Marinaleda erhalten für sechs Stunden
Arbeit pro Tag 47 Euro. Was darüber hinaus erwirtschaftet wird, kommt
dem Gemeinwohl zugute. So ist es möglich, dass das knapp 3000 Einwohner
zählende Dorf über mehrere Sportanlagen, einen großen Park und
zahlreiche kleinere, gepflegte Grünflächen verfügt.
"Die Menschen hier brauchen nicht viel Geld," sagt Bürgermeister Sánchez Gordillo. "Anderswo wird unter der Last von Hypotheken und Krediten gestöhnt,
hier zahlen wir für das Baumaterial unserer Häuser der Gemeinde 70
Jahre lang 15 Euro im Monat ab, dann gehören sie uns." Der Mann weiß,
wovon er spricht, er lebt selbst in einem der schmucken Häuser, die sich
die Einwohner Marinaledas in Selbstbeteiligung bauen. Das Dorf stellt
Bauland und Material, die Arbeitskraft stellen sie selbst. 350 Häuser
sind auf diese Art und Weise bereits entstanden.
"Man kann Menschen nur überzeugen, wenn man ihnen ein Vorbild ist,"
sagt Sánchez Gordillo, der jüngst auch in das andalusische Parlament
gewählt wurde. Auch er hat nur das Einkommen zur Verfügung, von dem
seine Mitbürger leben. Dafür ist er Tag und Nacht unterwegs im Dienst
der Revolution. "Eine andere Welt ist machbar!" steht über dem Eingang
zum Haus des Volkes, in dem die regelmäßigen Vollversammlungen des
Dorfes stattfinden.
"Er klebt an seinem Stuhl."
Heute geht es um Landespolitik. Sánchez Gordillo ruft seine Mitbürger
zur Abstimmung darüber auf, ob die Kommunisten sich an der
Landesregierung Andalusiens beteiligen sollen. An ihrer Stimme hängt es,
ob die Sozialistische Partei PSOE
oder die Volkspartei PP die Regionalregierung bildet. Er selbst ist
gegen jede Zusammenarbeit, Kompromisse macht er nicht. Letztendlich aber
setzt sich die Kooperation zwischen Sozialisten und Kommunisten auf
Landesebene durch.
Vor und nach der Vollversammlung wird Sánchez Gordillo immer wieder
angesprochen. Eine Frau hat Probleme mit den Arbeitspapieren ihres
Mannes, eine andere braucht einen Kindergartenplatz für ihren Sohn. Der
Bürgermeister lässt sich nach über drei Jahrzehnten im Amt nicht mehr
aus der Ruhe bringen und hat ein offenes Ohr für alle. Dabei müsste er
längst mit dem Autobus zum Zug unterwegs sein, denn er muss noch in die
Landeshauptstadt. Ein Dienstfahrzeug hat er nicht, ein privates Auto
auch nicht. "Kann mich wer zum Bahnhof fahren?" fragt er. "Ich muss aber
vorher noch zu Hause vorbei und meinen Koffer holen." Schnell findet
sich ein Einwohner mit Wagen, der den Bürgermeister fährt.
"Die Arbeitslosigkeit liegt bei zehn Prozent"
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"Ja, er ist wirklich ein Revolutionär, der nach seinen Überzeugungen
lebt," sagt Hipólito Aires. "Aber irgendwie klebt er auch zu sehr an
seinem Stuhl und legt sich die Wirklichkeit gern nach seinen Idealen
zurecht." Aires ist einer der beiden Oppositionspolitiker im Rathaus
Marinaledas. Die beiden gehören der PSOE an, der sozialistischen Partei,
parteipolitisch weiter rechts gibt es hier nichts. Aires arbeitet schon
sein halbes Leben in der einzigen Tankstelle der Ortschaft und wirft
seinem Bürgermeister vor, ein Lügner zu sein. "Er behauptet, es gäbe
keine Arbeitslosigkeit im Dorf. Sie liegt aber bei knapp zehn Prozent.
Das ist weniger als die Hälfte der fast 24 Prozent in ganz Spanien, aber
eben nicht nichts", sagt Aires. Außerdem sei dieses System der
Kooperative ohne Subventionen von der EU gar nicht machbar.
"Subventionen für ihre Ländereien erhält sogar die Herzogin von Alba,
eine der reichsten Frauen Spaniens", sagt Sánchez Gordillo, wenn er das
Argument hört. "Und anders als wir sät sie jedes Jahr das Produkt, das
die meisten Subventionen erhält, aber um die Ernte kümmert sie sich
nicht. Die sahnt nur das Geld für den Anbau ab. Hunderttausende von
Euros. Aber die Feldfrüchte verkommen auf dem Acker."
Weil das anscheinend tatsächlich so ist, weil viele der
Großgrundbesitzer Andalusiens ihr fruchtbares Land brach liegen lassen
oder aber nur anbauen, was von der Europäischen Gemeinschaft
subventioniert wird, ist der Kampf der Landarbeiter Andalusiens noch
lange nicht vorbei. Am 4. März 2012 besetzten arbeitslose andalusische
Tagelöhner die Finca Somonte in der Privinz Córdoba. Am 26. April wurde
ihr improvisiertes Lager in den frühen Morgenstunden von der Guardia
Civil geräumt. Für den 1. Mai sind weitere Besetzungen geplant.
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